Wie lange noch? Diese Frage bekommt man ja häufig von Kindern, während einer Reise gestellt. Und innerlich stellt man sich diese Frage wohl auch selbst. Reisen muss nicht anstrengend sein, sie kann es aber.
Während einer Reise bin ich immer wieder am Philosophieren. Während die Landschaft an mit vorüber zieht, habe ich Zeit, meine Seele baumeln zu lassen und über dies und das nachzudenken. Daher möchte ich mich gerne als Reisephilosophin bezeichnen. Und da mein Leben eine Reise ist, bezieht sich das also nicht nur partiell darauf, wenn wir im Wohnmobil unterwegs sind, denn wir sind ja irgendwie immer unterwegs….
Immer wieder starten wir zu mehrmonatigen Reisen durch Europa. Meistens fahren wir im Herbst in den Süden und versuchen Kilometer zu schrubben, um in wärmere Regionen zu kommen. Und einige Male schon, sind wir zu unserem Grundstück in Portugal gefahren. Das sind rund 2200 Km Wegstrecke. Es sind also zu Beginn unserer Reisen meistens erst einmal einige Kilometer zu bewältigen, bevor wir die Geschwindigkeit herausnehmen. Manche die uns kennen höre ich jetzt lästern….“Welche Geschwindigkeit, ihr schneckelt doch mit eurem Lkw so oder so nur mit 80 Km/h durch die Gegend.“ Stimmt – aber für uns ist das schon recht schnell!
Was mir also bei diesen Schrubbkilometern auffällt und was ich mir bisher nicht wirklich erklären kann, ist das Phänomen, dass die Kilometer verschieden schnell vergehen, obwohl wir eine mehr oder weniger gleichbleibende Reisegeschwindigkeit beibehalten. Auf dem Navigationsgerät stehen also am Anfang 2200 Km und diese ersten 201 Km sind zäh wie Kaugummi. Man hat das Gefühl nicht von der Stelle zu kommen und das Rückwärtszählen klemmt irgendwie in der digitalen Anzeige fest.
Wenn dann die Ziffern 2015 – 1971 erscheinen kann man eine Weile die Jahreszahlen vor sich hersagen und in seinem Leben in diesen Jahren kurz verweilen, sich fragen, was habe ich in diesem Jahr gemacht? Diese Kilometer gehen dann relativ schnell vorbei, denn man hüpft innerlich von einem Ereignis zum nächsten und im Kopf werden Schubladen geöffnet, die schon lange geschlossen waren. Und so rumst es im Gedächtnisschrank im Kopf Kilometer für Kilometer.
Dann aber wird es wieder zäh und man bewegt sich wie im Tiefschnee. Jeder Schritt ist anstrengend und man hat das Gefühl sich auf der Stelle zu bewegen, statisch an einem Ort festgeklebt zu sein. Man schaut auf das Navi und sieht die Zahlen stagnieren. Dann zwingt man sich weniger oft hinzuschauen, aber dennoch bewegt sich kaum etwas. Jeder Kilometer wirkt hart erarbeitet und innerlich frägt man sich „wie lange noch“? Eigentlich eine Frage, die prädestiniert für einen Kindermund ist. Doch unsere Kinder stellen diese Frage kaum. Sie sind so aufgewachsen und scheinen diesen Rhythmus mehr verinnerlicht zu haben als wir Erwachsenen. Wir schleppen uns also so dahin und ich versuchen mir vorzustellen, wie das auf der Karte aussehen würde? Wenn wir ein kleiner Punkt auf der Europakarte wären, wie er sich darauf bewegt. So als wären wir eine kleine Ameise in s l o w m o t i o n. Nur so bekomme ich das Gefühl doch irgendwie vorwärts zu kommen. Aber was ist Vorwärts? Und warum ist das Wort Rückwärts eher negativ behaftet, während der Ausdruck Vorwärts eher ein positives Image genieß. Darüber nachzudenken hilft mir dann die nächsten Kilometer zu überstehen, ohne an akuter Langeweile vom Fahrersitz zu fallen.
Wenn dann der Kilometerstand unter die vierstellige Marke auf 999 Km fällt, dann ist ein Meilenstein geschafft. Nur noch 999 Km. Dass, das nur knapp die Hälfte ist verrate ich in diesem Moment nicht meiner Psyche, die gerade beginnt einen kleinen Walzer zu tanzen vor lauter Freude. Mein Verstand schimpft währenddessen: „1100 Km ist genau die Hälfte der Wegstrecke. 999 Km sind ja im Prinzip 1000 Km. Also haben wir gerade mal 100 Km weniger als die Hälfte geschafft.“
Uff! Und schon ertappe ich mich beim nächsten Philosophenthema! Ist das Glas nun halbvoll oder halbleer? Bin ich ein positiv denkender Mensch oder eher ein destruktiver? Es gibt ja auch den realistisch denkenden Menschen, finde ich. Und für den ist das Glas mit Bitter Lemon, was er nicht mag, noch halbvoll, wenn er es trinken muss. Eine heiße, leckere Schokolade hingegen, ist bereits halbleer getrunken. Es kommt also auf den Inhalt des Glases an, finde ich. Man kann nicht pauschal sagen, dass ein Mensch, der ein Glas oder eine Tasse oder den Kilometerstand als halbvoll oder halbleer beschreibt ein Optimist oder ein Pessimist ist.
Nach dem kurzen Hoch „wir haben schon die Hälfte geschafft“ und meinem Versuch leise darüber zu philosophieren, hat meine Psyche dann doch gemerkt, dass wir nochmal so viel vor uns haben wie wir hinter uns haben und legt sich beleidigt in die Ecke. Ich muss daher alleine weiterfahren. Wie lange versuche ich dann im Kopf auszurechnen, was mich auch wieder ablenkt, denn ich bin eine Niete im Kopfrechnen. Ich weiß aus Erfahrung, dass mein nächstes Hoch bei Kilometerstand 99 kommen wird und muss nun eine Subtraktionsaufgabe vollziehen, dabei fällt mir alleine dieses Wort auszusprechen schwer! Wer lässt sich so einen schweren Zungenbrecher einfallen? Ich rechne also aus (und dazu brauche ich einige Kilometer, denn ich bin nah dran am Ergebnis, das zieht mir ein PKW knapp rein und ich muss mich kurz aufregen. Also nochmal rechnen. Aber irgendwie rechnet es sich schwer, wenn die Blase voll ist. Es scheint da eine Verbindung zwischen Hirn und Blase zu geben. Und wenn ich mal muss, dann geht in meinem Kopf entsprechend dem Pipipegel wenig bis nichts mehr. Also erstmal an einer Raststätte austreten gehen.
Nach der Pause gehe ich frisch motiviert an die Rechenoperation. Hände desinfizieren, sterile Handschuhe an, Schere bitte! Konzentrifiziert komme ich zu folgendem Ergebnis: 900 Km! Doch bevor ich den Patienten wieder zunähen kann bin ich bass erstaunt! War das wirklich so einfach?! Gibt’s nicht! Lieber nochmal nachrechnen und die Probe machen, auf Nummer sicher gehen. (Mein Mathelehrer wäre Stolz auf mich!)
Doch nach der Gegenrechnung bleibt es dabei. 900 Km waren richtig. Aber nee – doch nicht! Denn mittlerweile stehen da ja gar keine 999 Km, denn wir sind ja weitergefahren, also bin ich von einer falschen Zahl ausgegangen und habe den falschen Patienten operiert – auweia!
Nach einer halben Ewigkeit, oder war es eher eine dreiviertel Ewigkeit (schon wieder Mathematisches Denken, was ich bewege, dabei mag ich Mathematik gar nicht), sehe ich tatsächlich die lang ersehnte Zahl. Wir sind so gut wie am Ziel. 99 Km. Doch der nächste dicke Marker werden die 20 Kilometer sein. Kaum sehe ich sie auf dem Navigationsgerät erscheinen, sehe ich sie auch schon dahin rasen. Ich schwöre, die Kilometer rasen mit Lichtgeschwindigkeit nur so dahin. Diese letzten 19 Kilometer vergehen wie im Flug! Sie haben eine andere Halbwertszeit (jetzt bin ich in der Chemie gelandet, gutes Zeichen), als alle anderen Kilometer zuvor! Warum entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht unternehme ich die vielen Reisen, um genau an diese Antwort zu gelangen?
Am Ziel angekommen, sitze ich abends und beobachte den Sonnenuntergang. Die letzten Zentimeter gehen so schnell und schon ist sie verschwunden. Würde ich ihren Lauf den ganzen Tag beobachten, hätte ich sicherlich dasselbe Empfinden, wie bei unserer Reise gehabt. Auch bei ihr scheint dasselbe Phänomen zu sein wie bei mir – ich bin ein Sonnenkind, eine realistisch rechnende Optimistin!